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Mike Okay – Erinnerungsarchitekt unterm Regenbogen

 

Was bleibt von einer Kindheit, wenn ihre Orte verschwinden, ihre Dinge sich abnutzen und ihre Geräusche verstummen? Vielleicht sind es keine klaren Bilder, keine geschlossenen Erzählungen, sondern Fragmente – Farbtöne, Linien, Gerüche, Bruchstücke. Dinge, die sich nicht mehr eindeutig zuordnen lassen, aber immer wieder auftauchen – nicht nur als Erinnerung, sondern als Atmosphäre.

In den Arbeiten Mike Okays wird Erinnerung nicht illustrativ verhandelt, sondern tastend aktiviert. Es geht nicht um eine lineare Biografie, sondern um Zustände, die persönlich und kollektiv zugleich sind. Seine Bildwelten entstehen dort, wo Sprache abbricht, wo Zeit sich auflöst und das Gefühl des Gewesenen in Fläche und Farbe übergeht. Dabei arbeitet er mit dem Vagen und Flüchtigen – aber nie unpersönlich. Vielmehr überlagern sich biografische Spuren mit allgemeinen kulturellen Codes, wodurch sich eine vielschichtige, sedimentierte Wahrnehmung ergibt. Erinnerungen werden dabei nicht rekonstruiert, sondern als energetische Zustände geladen.

In der Ausstellung „Toy Stories“ (Valerius Gallery, Luxemburg) etwa werden Gegenstände zu Protagonisten eines physischen Gedächtnisparcours. Abgenutzte Spielzeuge und Fundstücke – teils aus Okays eigenem Fundus, teils symbolische Stellvertreter – erscheinen in minimalistischen Szenen, die weder nostalgisch verklären noch rein dekorativ wirken. Vielmehr formen sie eine räumliche Grammatik, in der Materialität und Erinnerungsatmosphäre ineinander übergehen. Es entsteht ein Spiel mit Form- und Bedeutungsverschiebung, in dem Erinnerung als moderierter Schwebetanz erfahrbar wird. Die Objekte dürfen kippen, sich verlieren, neu formieren – wie Gedanken, die nie zu einem klaren Satz werden, aber dennoch etwas sagen.

Die Ausstellung „Turbo Diary“ (We Collect Gallery, Madrid) übersetzt das Tagebuch in eine bildnerische Fläche – ohne Linearität, ohne Datum, ohne Randnotizen. Stattdessen: flirrende Sequenzen aus Garnknäueln, Spielzeugautos, kruden Tieren, flüchtigen Alltagsdetails. Viele dieser Elemente stammen aus einem biografischen Kosmos – oder verweisen sinnbildlich auf eine Kindheit, wie sie sich in der DDR und den 90er-Jahren angefühlt haben könnte. Die entstehende Bildsprache oszilliert zwischen Chaos und Ordnung, zwischen dem Persönlichen und dem kollektiv Lesbaren. Der „Turbo“ verweist hier nicht auf Geschwindigkeit, sondern auf Dichte: auf überlagerte Zeitschichten, die kurz aufblitzen und wieder verschwinden dürfen. Keine Nacherzählung – sondern ein Verweilen im Zustand des Erinnerns.

In der Arbeit „BMX“, die zur Serie „Behind the Block“ gehört, verdichtet sich diese Haltung zu einem Zustand von Bewegung. Das BMX-Rad fungiert hier nicht als nostalgisches Objekt, sondern als Chiffre für eine Phase der Entgrenzung, des körperlichen Werdens, des Ausprobierens. Doch auch in dieser Serie steht nicht das Motiv im Vordergrund, sondern die Bildsprache selbst: Linien nehmen Fahrt auf, Flächen überlagern sich, Kompositionen kommen ohne festen Mittelpunkt aus. Bewegung wird nicht gezeigt, sondern fühlbar gemacht.

Mike Okays Farbpalette bewegt sich zwischen Überreizung und Zartheit, zwischen greller Intensität und atmosphärischer Zurücknahme. Seine Arbeiten sind durchzogen von leuchtenden Akzenten – Neonpink, Türkis, Signalgelb –, die unübersehbar auftreten, aber nie isoliert stehen. Ihnen gegenüber stehen gebrochene Pastelltöne: bleiches Lila, staubiges Apricot, mintiges Grau. Diese Farben wirken nicht beruhigend im klassischen Sinne, sondern halten die grellen Impulse in der Schwebe. Sie setzen Kontraste – aber auch Korrekturen. In dieser farblichen Ambivalenz entsteht ein Dialog, in dem kein Ton endgültig dominiert. Pastellfarben fungieren bei Okay wie visuelle Zwischenräume – Orte, an denen Erinnerung ausfransen darf. Sie verleihen den Bildflächen eine poröse Qualität, in der das Nicht-Gesagte nachhallt. Farbe ist bei Okay keine Dekoration, sondern affektive Choreografie: ein fein abgestimmtes Zusammenspiel von Intuition, Popästhetik und kontrollierter Überlagerung.

Ein zentraler Bezugspunkt bleibt für Mike Okay die kollektive Praxis. Als Mitbegründer des Künstler*innenkollektivs KLUB7, das sich 1998 formierte und seitdem urbane Wandbilder, performative Formate und ortsspezifische Installationen realisiert, entwickelte er früh ein Gespür für das Zusammenspiel von Raum, Geste und Material. KLUB7 ging aus der Graffiti- und Street-Art-Szene der späten 1990er Jahre hervor – aus einer Kultur, in der Oberfläche, Zeichen und Kontext untrennbar miteinander verbunden sind. Diese Ursprünge prägen Okays Soloarbeiten bis heute: weniger im Motivischen als im Methodischen. Offenheit im Zugriff auf Materialien, Vertrauen in improvisierte Ordnung, die Idee von Kunst als sozialem Resonanzraum – all das trägt seine visuelle Handschrift.

So entfaltet sich in Mike Okays Werk eine eigene Grammatik des Erinnerns – eine Sprache ohne eindeutige Sätze, aber voller Zwischentöne. Sie fragt nicht: „Was ist passiert?“, sondern: „Was hat es hinterlassen?“ Seine Bilder geben keine Antworten. Sie setzen Räume frei – Zwischenräume, in denen sich das Unscharfe, das Fragile und das Nicht-Erzählbare zeigen dürfen.

Es ist eine Kunst der Resonanz, nicht der Deutung. Kein Statement, keine Pose. Sondern das leise Angebot, sich selbst in diesen fragmentarischen Bildwelten wiederzufinden – oder vielleicht erst zu verlieren.