Małgorzata Mirga-Tas – Textile Bilder einer verdrängten Geschichte

 

Mit der Ausstellung Eine alternative Geschichte widmet das Kunstmuseum Wolfsburg Małgorzata Mirga-Tas eine umfassende Schau, die erstmals in diesem Umfang in Deutschland Einblick in ihr Werk gibt. Bis zum 15. März 2026 entfaltet sich ein vielschichtiges Œuvre, das Geschichte aus der Perspektive der Rom*nja neu erzählt: aus feministischer, dekolonialer und antidiskriminierender Sicht. Die Ausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin entstanden und Teil einer internationalen Kooperation mit dem Kunstmuseum Luzern und dem Henie Onstad Kunstsenter in Norwegen.

Im Zentrum der Ausstellung steht der monumentale zwölfteilige Zyklus Re-enchanting the World (2022), der Mirga-Tas internationale Aufmerksamkeit einbrachte, unter anderem bei ihrem Auftritt im polnischen Pavillon der Biennale von Venedig. Formal nimmt die Künstlerin Bezug auf die Renaissancefresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara, die den Jahreslauf in kosmische, mythologische und alltägliche Szenen gliedern. Während diese Fresken für die europäische Kunstgeschichte, nicht zuletzt durch Aby Warburgs Forschungen, kanonisch geworden sind, eignet sich Mirga-Tas ihre Struktur an, um eine bislang marginalisierte Geschichte sichtbar zu machen. An die Stelle antiker Gottheiten und höfischer Szenen treten Darstellungen der Rom*nja-Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten Teil Europas ist und doch systematisch ausgegrenzt wurde.

Der Zyklus ist in horizontale Ebenen gegliedert: Oben thematisiert Mirga-Tas die historische Ankunft der Rom*nja in Europa, in der mittleren Zone rückt sie weibliche Figuren in den Mittelpunkt: Frauen, die als Heldinnen, Wissens- und Erfahrungsträgerinnen auftreten. Sternzeichen verstärken die symbolische Aufladung dieser Darstellungen. Die untere Ebene zeigt Szenen aus dem heutigen Alltag in der Region Kleinpolen, wo die Künstlerin lebt. Vergangenheit, Mythos und Gegenwart verschränken sich so zu einer Erzählung, die Geschichte nicht als abgeschlossenes Narrativ begreift, sondern als fortwirkenden Prozess.

Charakteristisch für Mirga-Tas’ Arbeiten ist die Verwendung von Textilien. Ihre großformatigen Werke entstehen aus getragenen Kleidungsstücken, Vorhängen oder Haushaltsstoffen, die aus ihrem persönlichen Umfeld stammen. Diese Materialien bringen individuelle Erinnerungen und biografische Spuren in die Arbeiten ein und verleihen ihnen eine besondere Nähe. Entstanden sind viele Werke in kollektiver Zusammenarbeit mit Frauen aus ihrer Familie und Community. Ein Arbeitsprozess, der Gemeinschaft nicht nur thematisiert, sondern praktiziert.

Ein weiterer zentraler Werkkomplex der Ausstellung ist die fortlaufende Serie Herstories (2019–2025). In überlebensgroßen Porträts würdigt Mirga-Tas Romnja, die innerhalb und außerhalb ihrer Gemeinschaft prägend wirken. Dazu zählen bekannte Persönlichkeiten ebenso wie Frauen aus dem unmittelbaren Umfeld der Künstlerin. Der Titel verweist bewusst auf feministische Strategien der Geschichtsschreibung, die seit den 1970er-Jahren versuchen, weibliche Perspektiven aus dem Schatten einer männlich dominierten Historiografie herauszulösen. Die Porträts fungieren als visuelles Archiv weiblicher Selbstermächtigung und widersprechen gängigen, oft stereotypen Bildern von Rom*nja.

Mit dem Animationsfilm Noncia (2022) erweitert Mirga-Tas ihr textiles Erzählen in den filmischen Raum. Der Film erinnert an Alfreda Noncia Markowska, eine Romni und Holocaust-Überlebende, die während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Kinder vor der nationalsozialistischen Vernichtung rettete. In animierten Textilcollagen wird ihre Geschichte aus einer subjektiven Perspektive erzählt, leise, eindringlich und ohne Pathos. Der Film verleiht einer weitgehend unbekannten historischen Figur Sichtbarkeit und würdigt ihren Mut als Teil einer kollektiven Erinnerungskultur.

Auch die Paravents (2021–2025) greifen das Spannungsverhältnis von Sichtbarkeit und Verborgenem auf. Als bewegliche Raumteiler tragen sie textile Darstellungen alltäglicher Szenen: Begegnungen von Frauen, familiäre Konstellationen, intime Innenräume. Der Paravent fungiert hier nicht nur als Bildträger, sondern als symbolisches Objekt, das Fragen nach Öffentlichkeit, Privatheit und Repräsentation stellt. Mitunter integriert die Künstlerin sich selbst in diese Szenen und verweist damit auf die eigene Position innerhalb der erzählten Geschichten.

Ergänzt wird die Ausstellung durch das Projekt RomaMoMA, eine Initiative des Europäischen Rom*nja-Instituts für Kunst und Kultur (ERIAC) und der OFF-Biennale Budapest. Als nomadisches, bewusst offenes Museumsprojekt versteht sich RomaMoMA weniger als Institution im klassischen Sinn, sondern als Plattform für Austausch, Diskurs und kollektives Nachdenken über ein zukünftiges Rom*nja-Museum für zeitgenössische Kunst. Die begleitende nomadische Bibliothek macht dieses Anliegen greifbar und erweitert die Ausstellung um eine wissensbasierte Dimension.

Mit Eine alternative Geschichte formuliert Małgorzata Mirga-Tas keine Gegen-Erzählung im Sinne einer bloßen Korrektur bestehender Narrative. Vielmehr öffnet sie den Blick für Geschichten, die lange übersehen wurden, und verankert sie selbstbewusst im Kanon zeitgenössischer Kunst. Die Ausstellung macht deutlich, wie eng ästhetische Praxis, politische Haltung und gemeinschaftliches Arbeiten in ihrem Werk miteinander verwoben sind und warum diese Perspektiven heute notwendiger sind denn je.

kunstmuseum.de

 
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